Rede zum Jubiläum der Medizinischen Flüchtlingshilfe Bochum e.V.

 03.11.2007

Sozialmedizinische Menschenrechtsarbeit muss weitergehen !


Rede zum Jubiläumsfest
der Medizinischen Flüchtlingshilfe Bochum,
3. November 2007, Museum Bochum

Von
Georg Eberwein und Knut Rauchfuss, Gründungsmitglieder der MFH

Georg Eberwein:

Liebe Freundinnen, liebe Freunde,

herzlich willkommen zu unserem
Fest! Es ist schön, so viele Gesichter hier heute wiederzusehen,
die uns die vergangenen elf Jahre über begleitet haben.
Ja, Ihr habt richtig gehört: 11 Jahre! Denn es war am 26. November
1996, als sich Knut und ich mit einer Handvoll weiterer AktivistInnen
in der verrauchten Küche einer Bochumer Wohngemeinschaft trafen,
weil wir das systematische Unrecht, das Flüchtlingen in der Bundesrepublik
Deutschland angetan wurde, nicht länger mit ansehen mochten.

Lasst mich in ein paar Sätzen das politische Klima in Erinnerung
rufen, das uns damals bewegte:

Drei Jahre zuvor hatte der
Deutsche Bundestag das Grundrecht auf Asyl in diesem Land faktisch abgeschafft.
Es waren die ersten Steine, die damals zur Errichtung einer „Festung
Europa“ aufeinander geschichtet wurden, begleitet von brandschatzenden
neofaschistischen Banden.
Seit September 1991 gingen Flüchtlingsheime und von MigrantInnen
bewohnte Unterkünfte in Flammen auf … unter dem Beifall der
rassistischen Stammtische: Hoyerswerda, Rostock, Mölln, Solingen
und Lübeck, um nur ein paar Namen zu nennen.
So war es kein Zufall, dass wir zur Gründung der Medizinischen Flüchtlingshilfe
just in jener Wohnung erstmals zusammenkamen, in der seit einigen Jahren
auch die Bochumer Notfalltelefonkette zum Schutz von Flüchtlingen
rund um die Uhr erreichbar war.

Parallel zur Abschaffung des
Asylrechtes war es auch zu Verschärfungen des Ausländerrechtes
und zur drastischen Kürzung von Sozialleistungen für Flüchtlinge
gekommen. Unter anderem gewährte das so genannte Asylbewerber„leistungs“gesetz
medizinische Versorgung nur noch in Notfällen.
Und nachdem es nahezu unmöglich geworden war, auf legalem Weg in
dieses Land zu fliehen, einzureisen, einzuwandern, machte ein neuer Begriff
in Deutschland die Runde: Menschen, die hier Zuflucht suchen, wurden zu
„Illegalen“ erklärt.
Einerseits, weil die Überschreitung der Staatsgrenzen vielfach nur
noch „illegal“ möglich war – für „illegal“
erklärt wird seither aber auch:,wer hier bleibt, obwohl der Aufenthalt
nicht mehr erlaubt, gestattet oder geduldet ist. Für Menschen ohne
Papiere verlaufen die zu überwindenden Grenzzäune weiter durch
den Alltag – überall dort, wo sie befürchten müssen,
nach ihren Papieren gefragt zu werden.
„Illegalität“ bedeutet völlige Rechtlosigkeit: rechtlos
gegenüber Behörden, rechtlos gegenüber Arbeitgebern, rechtlos
gegenüber Vermietern und schutzlos gegenüber jeder Art von Krankheit.
Und wer keine Papiere hat, lebt in ständiger Angst: vor dem Geflüster
der Denunziation, vor Strafe, vor Abschiebehaft, und schließlich
vor der Abschiebung selbst.

Und auch das Abschieberegime
war damals deutlich brutaler geworden:
Zwei Jahre vor dem Gründungstreffen der MFH hatten die Grenzschützer
des deutschen Innenministers Kanther den Nigerianer Koala Bankole bei
seiner Abschiebung zu Tode geknebelt. Und 1995 hatte die Abschiebung von
sieben medikamentös ruhiggestellten sudanesischen Folterüberlebenden
aus dem Sicherheitsbereich des Frankfurter Flughafens bundesweit Aufsehen
erregt.

Im Mai 1996 schließlich
wurde die öffentliche Kritik an diesen Zuständen mit einem gewalttätigen
Polizeiüberfall auf die Demonstration gegen den Abschiebeknast in
Büren beantwortet. Einen Monat später wurde die Abschiebung
von 325.000 bosnischen Flüchtlingen beschlossen, noch ehe sich der
Pulverdampf über dem ehemaligen Jugoslawien auch nur ansatzweise
gelegt hatte. Und kurdische Flüchtlinge wurden ohnehin oftmals direkt
in den offenen Krieg zurückgeschickt.
In dieser Situation entstand nach Berliner Vorbild die Medizinische Flüchtlingshilfe
Bochum.

Knut Rauchfuss: Ja, damals empörte das noch einige,
wenn Flüchtlinge in den offenen Krieg oder in die Folterknäste,
aus denen sie geflohen waren, zurückgeschickt wurden. Für uns
hieß dies, von Beginn an, nicht nur gegen die Abschiebepolitik zu
protestieren, sondern stets auch auf die Zustände in den Herkunftsländern
aufmerksam zu machen, uns auch dort einzumischen und in Kooperation mit
Menschenrechtsorganisationen vor Ort gegen Folter und Krieg zu kämpfen.
Die Türkei und der dortige Krieg gegen die kurdische Bevölkerung
spielten dabei von Beginn an eine große Rolle.

Heute vor zehn Jahren saß
ich deshalb in einem Gerichtssaal in Istanbul. Angeklagt war eine Reihe
von Leuten, die eine Pressekonferenz besucht hatten, die ich zusammen
mit einigen weiteren MenschenrechtsaktivistInnen gegeben hatte. Der Vorwurf
lautete, wir seien „Friedensterroristen“. Mit Panzern hatten
sie uns daran gehindert, mit einem internationalen Buskonvoi ins kurdische
Diyarbakir zu gelangen, um dort auf einer Demonstration zum internationalen
Antikriegstag, dem 1. September 1997, das Ende des Blutvergießens
zu fordern.

Es war nicht die erste Menschenrechtsdelegation,
der sich die Medizinische Flüchtlingshilfe angeschlossen hatte, und
es sollte nicht die letzte sein. Wieder und wieder reisten wir in die
Türkei und nach Kurdistan, um die systematischen Menschenrechtsverletzungen
zu dokumentieren, wieder und wieder wurden unsere Delegationen dabei verhaftet
und gelegentlich aus Kurdistan abgeschoben.
Zwei Menschen, die mich dabei regelmäßig begleiteten und freundschaftlich
unterstützten, sind heute hier, und ich möchte sie besonders
begrüßen. Es handelt sich um die Bundestagsabgeordnete Ulla
Jelpke und den NRW-Landtagsabgeordneten Ewald Groth. Und ein weiterer,
ebenso großer Dank gilt Uwe Vorberg, der jede Aktion von hier aus
begleitete und uns auch aus teilweise schwierigen Situationen zuverlässig
wieder herausholte. Ein weiterer Mitstreiter unserer italienischen Partnerorganisation
„Senza Confine“ – „Ohne Grenzen“ –
Dino Frisullo, der lange Zeit in türkischer Haft verbrachte, kann
leider heute hier nicht mehr bei uns sein. Er verstarb vor vier Jahren,
wird aber – nicht nur in Kurdistan – unvergessen bleiben.

Gemeinsam mit der Ärzteorganisation
IPPNW bewachte eine Delegation der Medizinischen Flüchtlingshilfe
Bochum in Ankara vor neun Jahren die Intensivstation jenes Krankenhauses,
in dem der damalige Vorsitzende des türkischen Menschenrechtsvereines,
Akin Birdal, nach einem Attentat notfallmäßig versorgt wurde.
Mit sieben Kugeln hatten türkische Todesschwadronen ihn in seinem
Büro niedergestreckt, und diejenigen, die versuchten, sein Leben
zu retten, standen unter Bombendrohungen. Akin Birdal überlebte und
wurde seinerseits vor Gericht gestellt. Die Medizinische Flüchtlingshilfe
begleitete ihn 1999 ins Gefängnis und setzte sich mit einer Kampagne
für seine Freilassung ein. Heute ist Akin Birdal Abgeordneter des
türkischen Parlaments und damit ein weiteres Mal im Fadenkreuz der
Repression.

Hierzulande organisierte die
MFH zwei Großdemonstrationen, in Dortmund und in Bonn, auf denen
jeweils rund 60.000 Menschen für „Frieden, Freiheit und Demokratie
in Kurdistan“ demonstrierten, und berichtete fast wöchentlich
auf Veranstaltungen zwischen Madrid, Brüssel, Zürich, und Berlin,
über die Kriegsverbrechen des türkischen Staates.
Doch auch mit der kurdischen PKK legte sich die Medizinische Flüchtlingshilfe
an und setzte diese wegen ihrer Menschenrechtsverletzungen unter Druck.
So gelang es, vor sieben Jahren, eine Reihe von Dissidenten zu befreien,
die in den Ausbildungslagern der Organisation im Irak gefangen gehalten
wurden und zum Tode verurteilt worden waren. Viele von ihnen leben heute
hier in Deutschland im Exil.

Es gäbe noch viel zu sagen,
über die Situation in der Türkei heute, zehn Jahre später,
über die bevorstehende Invasion im kurdischen Nordirak, über
die Jagd auf kurdische Menschen in den Straßen des Landes und nicht
zuletzt über die so erstaunlich „nützlichen“ Terroranschläge
der PKK. Ich will das an dieser Stelle nicht tun. Wenn wir im Dezember
aus der Türkei zurückkehren, werden wir das nachholen.

Georg Eberwein: Kurdische Flüchtlinge in Deutschland,
seinerzeit die größte Gruppe, die hier Zuflucht suchte. Und
eben auch eine Gruppe, die sich nicht einfach still damit abfinden wollte,
dass dieses Land ihnen den dringend erforderlichen Schutz verweigerte.
Wie viele andere Flüchtlinge, hatten auch sie sich in die Kirchen
geflüchtet, um sich dem Zugriff der Abschiebebehörden zu entziehen.

Es war am 21. Januar 1998,
als sich in der Kölner Antoniterkirche zwanzig kurdische Flüchtlinge
nicht länger verstecken wollten. Mit Unterstützung der Kampagne
„Kein Mensch ist Illegal“ machten sie sich am 7. März
auf den Weg. Auch die Medizinische Flüchtlingshilfe begleitete damals
das neugeborene „Wanderkirchenasyl“, zunächst von Köln
nach Düren. Von Kirche zu Kirche ziehend, erreichte das Wanderkirchenasyl
zwei Monate später Bochum. Eine spektakuläre Schiffsfahrt von
Köln nach Düsseldorf, Proteste vor dem Innenministerium und
eine Besetzung der grünen Landesgeschäftsstelle folgten.
Unsere Rolle bestand dabei einerseits in der politischen Unterstützung
der Forderung nach einem Abschiebestopp: ein entsprechender von der MFH
formulierter Antrag wurde im März 1999 im Bundestag abgelehnt. Andererseits
sicherte die Medizinische Flüchtlingshilfe aber vor allem die Gesundheitsversorgung
des Wanderkirchenasyls, das nach einem Jahr schon über 300 Flüchtlinge
umfasste.

Seit Ende Dezember 1997 hatten
wir die logistischen Möglichkeiten dazu geschaffen. Ein Netzwerk
aus mehr als 50 niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten war geknüpft
worden, und regelmäßige Sprechstunden für Flüchtlinge
ohne Gesundheitsversorgung wurden angeboten. Nicht selten hielten wir
auch in den Kirchen Sprechstunden ab.
Unterstützt in dieser Aufbauphase hat uns die evangelische Kreissynode
Herne, die uns mit ihrem Menschenrechtspreis eine nicht unwichtige Publizität
und Rückendeckung verschaffte. Und praktisch schlossen sich eine
Reihe Ärztinnen und Ärzte der „Humanitären Cubahilfe“
schon im ersten Jahr der Medizinischen Flüchtlingshilfe an. Sie begleiten
uns bis heute, wofür ihnen, wie allen anderen Ärztinnen und
Ärzten des Netzwerkes, unserer besonderer Dank gilt.

Knut Rauchfuss: Doch nicht nur aus Bochum und Umgebung
erreichten uns Anfragen nach medizinischer Hilfe. Außer in Berlin
und Bochum gab es damals keine entsprechenden Organisationen. Wir erweiterten
unser ÄrztInnen-Netzwerk auf das gesamte Ruhrgebiet und knüpften
einzelne Kontakte auch in anderen Städten. Alle paar Wochen hielt
ich damals auch ambulante Sprechstunden in Köln ab. Und immer wieder
erreichten unser im Herbst 1998 eingerichtetes Büro Hilferufe aus
dem gesamten Bundesgebiet.
Später erst gründeten sich ähnliche Initiativen auch in
anderen Städten, einige davon mit unserer Unterstützung. Heute
gibt es entsprechende Einrichtungen in mehr als 15 Städten, der Deutsche
Ärztetag fordert die Ärzteschaft zur Mithilfe auf und die „Malteser
Migranten Medizin“ hat für ihre Arbeit gar die zweifelhafte
Ehre eines Bundesverdienstkreuzes erhalten.

Wir wollen eine solche Auszeichnung
nicht. Von Beginn an hielten und halten wir es für ein Zeichen von
Barbarei, dass es Initiativen wie die unsere in diesem Land überhaupt
geben muss. Und dieser Skandal dauert nun schon mehr als eine Dekade an
und ist über die Grenzen der Bundesrepublik hinaus zu einem europaweiten
„Exportschlager“ geworden.

Noch im Februar 1998 reiste
ich mit einem Filmteam nach „Badolato Superiore“ in Süditalien,
wo Bootsflüchtlinge eine weitgehend entvölkerte aber intakte
Kleinstadt geschenkt bekommen hatten. – Heute, fast zehn Jahre später,
jagen die Marineschiffe Italiens und der anderen Mittelmeeranrainer vereint
die Flüchtlingsboote. Dirigiert werden sie von der europäischen
Grenzschutzagentur „Frontex“. Allein vor den Kanarischen Inseln
kamen im vergangenen Jahr etwa 6.000 Menschen während ihrer Flucht
ums Leben. Und diese Woche erreichte uns ein Bericht von Pro Asyl, demzufolge
Flüchtlinge nach der Ankunft an Griechenlands Küsten systematisch
misshandelt und zurück aufs Meer geschickt werden. Menschen wie Elias
Bierdel – damals noch bei Cap Anamur, heute bei „borderline-europe“
– die versucht haben, Bootsflüchtlinge auf hoher See zu retten,
werden verhaftet und vor Gericht gestellt.
Für uns heißt dies, dass wir nicht nur gescheitert sind, mit
unserem Anliegen, die Medizinische Flüchtlingshilfe überflüssig
zu machen, sondern, dass wir umso beharrlicher fortfahren müssen,
Löcher in die europäischen Festungsmauern zu bohren.

Georg Eberwein: Schon bald, nachdem wir angefangen hatten,
regelmäßige medizinische Sprechstunden für Flüchtlinge
ohne Papiere anzubieten, mussten wir erkennen, dass nicht wenige von denen,
die sich Hilfe suchend an uns wandten, kein medizinisches Problem im engeren
Sinne hatten. Ihre seelische Gesundheit war angegriffen, durch all das,
was sie durchlebt und durchlitten hatten oder noch durchleiden mussten.
„Psychotrauma“ nennt das die Psychologie, und auch wir waren
gezwungen, uns mit den seelischen Folgen auseinanderzusetzen, die schwere
Menschenrechtsverletzungen hinterlassen können.

Ein „Trauma“, das
ist wie ein Riss durch die Seele, von dem man nur sagen kann, wann er
begonnen hat. Wer Folter, Krieg oder andere Formen systematischer Gewalt
überlebt, der trägt diese schrecklichen Erfahrungen zeitlebens
mit sich herum. Und wie sich der weitere Verlauf dieses „Risses
durch die Seele“ weiterentwickelt, lässt sich nicht vorhersagen.
Ob er sich jemals wieder schließen lässt oder ob er später
nur noch offener und noch verletzlicher klafft, das ist ganz entscheidend
von den gesellschaftlichen Bedingungen abhängig, unter denen die
traumatischen Erlebnisse bearbeitet werden müssen.
Eine ganz wesentliche Rolle spielt dabei die Anerkennung des Erlittenen
durch die umgebende Gesellschaft. Überlebende von Folter und Krieg
aber, die nach vielen Schwierigkeiten endlich vermeintlich sicheren deutschen
Boden erreichen, treffen hier auf eine Situation, die das Trauma nur noch
tiefer einreißt. Statt Anerkennung schlägt ihnen systematisches
Misstrauen entgegen. Asylverfahren zwingen sie, über die unaussprechlichen
Demütigungen vor Fremden offen zu reden, und das gesamte Verfahren
ist davon geprägt, ihr Leiden anzuzweifeln und sie der Lüge
zu bezichtigen. Arbeitsverbote und Lagerunterbringung befördern das
Trauma weiter.

Die Medizinische Flüchtlingshilfe
bietet seit 1998 daher auch eine spezielle Psychotherapie für Überlebende
von Folter und Krieg an. Im Laufe der Jahre leisteten Ahmet Begik, Anamaria
Diaz, Dagmar Böttcher und eine Reihe externer PsychotherapeutInnen
Großartiges, um Überlebenden dabei zu helfen, mit ihren leidvollen
Erfahrungen umgehen zu lernen.

Doch weil ein Trauma zwar individuell
erlitten, jedoch gesellschaftlich verursacht und aufrechterhalten wird,
reicht eine individuelle Psychotherapie oft nicht aus, um traumatisierte
Flüchtlinge zu stabilisieren. Zunächst mit Müjgan Aslan
und seit fast fünf Jahren mit Hanif Hidarnejad konnte die Medizinische
Flüchtlingshilfe nacheinander zwei engagierte FlüchtlingssozialarbeiterInnen
gewinnen.
Bis heute versucht Hanif Hidarnejad tagtäglich, das Unmögliche
möglich zu machen und die Lebensbedingungen von Flüchtlingen
etwas menschlicher zu gestalten. Rund 250 Flüchtlinge jährlich
suchen die Flüchtlingssozialberatung der Medizinischen Flüchtlingshilfe
auf, und etwa jeder Fünfte von ihnen benötigt gleichzeitig auch
therapeutische Unterstützung.
Die Zahl der Anfragen wächst von Jahr zu Jahr, und schon längst
übersteigt der notwendige Bedarf personell und finanziell die Möglichkeiten
der Medizinischen Flüchtlingshilfe.

Seit sechs Jahren begleitet
uns daher die Vision, eines Tages hier in Bochum ein großes Psychosoziales
Zentrum für Überlebende von Folter und Krieg einrichten zu können.
Ein Zentrum mit ausreichend Personal. Wir sind einige wichtige Schritte
in diese Richtung gegangen, und ein kleines Zentrum sind wir sicherlich
heute schon. Aber noch immer steht der große Kraftakt aus, für
den wir noch einige Unterstützung auch aus Euren Reihen benötigen
werden.

Knut Rauchfuss: Niemand flieht freiwillig. Und für
zahlreiche Flüchtlinge wird jeder Tag in Deutschland begleitet von
der Hoffnung, irgendwann einmal zurückkehren zu können. Eines
Tages, wenn die herrschenden Verhältnisse im Herkunftsland sich verändert
haben sollten.
Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Die Medizinische
Flüchtlingshilfe tritt uneingeschränkt für ein sicheres
Bleiberecht ein und verurteilt sämtliche staatlichen Vertreibungsversuche,
die unter dem Etikett „Rückkehr“ betrieben werden.
Doch wer zurückkehren möchte, soll dies auch können, und
dafür ist das Ende von Kriegsverbrechen, Repression und systematischen
Menschenrechtsverletzungen eine entscheidende Voraussetzung. Daher unterstützt
die Medizinische Flüchtlingshilfe Demokratisierungsprozesse, Friedensgruppen
und Menschenrechtsorganisationen, nicht nur – wie eingangs geschildert
– in der Türkei.

Vor ziemlich genau neun Jahren,
während ich gerade in Jerusalem mit dem damaligen US-Beauftragten
für den Gaza-Streifen beisammen saß, ging eine entscheidende
Nachricht weltweit über alle Fernsehschirme. Die Nachricht, dass
in London der ehemalige chilenische Diktator Pinochet festgenommen worden
sei.
Von Beginn an hatte die Medizinische Flüchtlingshilfe auch eng mit
ehemaligen Flüchtlingen zusammengearbeitet, die während der
Neunziger Jahre aus dem Exil nach Lateinamerika zurückgekehrt waren,
so auch nach Chile. Und niemals hätten wir uns träumen lassen,
dass General Pinochet, dieser Inbegriff des brutalen Tyrannen, irgendwann
für seine Verbrechen angeklagt werden könnte.
Despoten und Folterer waren damals immun, sie verbrachten ihren Lebensabend
wohlsituiert, im eigenen Land oder im Exil. Und höchstens Revolutionen
schienen gegebenenfalls geeignet, sie von der Macht zu entfernen und für
ihre Verbrechen zu bestrafen.
An jenem Abend aber brach eine neue Ära der internationalen Menschenrechtsarbeit
an – auch für die Medizinische Flüchtlingshilfe. Sofort
klinkten wir uns in Aktivitäten ein, die die Auslieferung Pinochets
von London nach Madrid forderten. Auf Delegationsreisen nach Chile hatte
die Medizinische Flüchtlingshilfe später Teil an der Gründung
der „Ethischen Kommission gegen Folter“ und konnte auf diese
Weise dazu beitragen ein Entschädigungsgesetz für Überlebende
von Folterhaft durchzusetzen.

Es sollte jedoch noch zwei
weitere Jahre dauern, bis uns der hondurenische Arzt und Menschenrechtler
Ramon Custodio Lopez auf den Zusammenhang zwischen der Straflosigkeit
schwerer Menschenrechtsverletzungen und der seelischen Gesundheit von
Überlebenden dieser Verbrechen hinwies. Er konnte dabei auf unsere
eigenen Erfahrungen in der psychosozialen Arbeit aufbauen. Denn immer
wieder suchten Flüchtlinge unsere Therapie auf, die darunter litten,
dass sie die Straflosigkeit ihrer Folterer oder der politisch Verantwortlichen
weiter verfolgte.
Während auf völkerrechtlicher Ebene Anstrengungen zur Einrichtung
von Tribunalen und eines internationalen Strafgerichtshofs unternommen
wurden, um Verantwortliche für Verbrechen gegen die Menschheit international
zur Verantwortung ziehen zu können, entstand parallel in der Medizinischen
Flüchtlingshilfe die Kampagne „Gerechtigkeit heilt“.

Nach anfänglichen Startschwierigkeiten
gelang es in den letzten vier Jahren, „Gerechtigkeit heilt“
zu einer schlagkräftigen Kampagne zu machen, denn Anfang 2003 führten
die Proteste gegen den Irakkrieg Bianca Schmolze in die Medizinische Flüchtlingshilfe.

Im selben Jahr hatte die Ruhr-Universität dem ehemaligen türkischen
Ministerpräsidenten Mesut Yilmaz eine Gastprofessur angeboten. Im
Verbund mit zahlreichen weiteren Bochumer Gruppen, die heute auch hier
unter den Gästen sind, gelang es uns damals die Bedeutung der strafrechtlichen
Verfolgung schwerer Menschenrechtsverletzungen an diesem Beispiel deutlich
zu machen. Unter dem Motto „Anklagebank statt Lehrstuhl“ ließen
wir keinen seiner Auftritte mehr ungestört ablaufen.
Ende 2004 musste dann eine iranische Regierungsdelegation im Bergbaumuseum
erfahren, dass ein ungestörter Auftritt von Verbrechern in Bochum
nicht möglich ist. Die Medizinische Flüchtlingshilfe hatte sich
unter die geladenen Gäste gemischt, Plakate mit der Aufschrift „Mörder“
hochgehalten und erklärt: „Wer in persischer Erde gräbt,
der stößt zuerst auf die Leichen der Verschwundenen …“

Unterdessen knüpften wir
weitere Kontakte im Kampf gegen Straflosigkeit. Mehrere Delegationsreisen
führten uns nach Argentinien, Paraguay, Uruguay und erneut nach Chile
und in die Türkei. Im April 2005 traten wir der „Koalition
gegen Straflosigkeit“ bei, und ein halbes Jahr später richtete
die Kampagne „Gerechtigkeit heilt“ einen internationalen Kongress
in Bochum aus, an dem – neben den bereits erwähnten Ländern
– auch AktivistInnen aus Serbien, Kambodscha, Peru, Venezuela, Guatemala,
El Salvador, Südafrika, Sierra Leone und Ruanda teilnahmen.
Schritt für Schritt ist heute ein weltumspannendes Netzwerk entstanden,
dem mehr als 60 Organisationen und Einzelpersonen aus 23 Ländern
angehören, die gegen die Straflosigkeit schwerer Menschenrechtsverletzungen
kämpfen – unter ihnen auch neun alternative Nobelpreisträger,
die bekannte Nazijägerin Beate Klarfeld und jener Anwalt, der mit
seiner Anzeige gegen General Pinochet den Stein ins Rollen gebracht hatte.
Unterstützt wird die Kampagne „Gerechtigkeit heilt“ auch
durch den UN-Sonderberichterstatter gegen Folter.

Zahlreiche weitere Aktivitäten
folgten: Beratungen über die Entschädigung der Überlebenden
von Giftgaseinsätzen und der Anfal-Operation im Irak, die letzte
Klage gegen Pinochet, die er nicht überlebte, eine Vernetzung von
Organisationen ehemaliger politischer Gefangener im Süden Lateinamerikas,
die Unterstützung der Klage gegen den ehemaligen US-Verteidigungsminister
Donald Rumsfeld und die Forderung nach strafrechtlicher Verfolgung der
Mörder der russischen Journalistin Anna Politkovskaja.

Für die Zukunft erhoffen
wir uns, mit Hilfe des internationalen Netzwerkes „Gerechtigkeit
heilt“ noch konkreter dazu beitragen zu können, diesen Planeten
für Kriegsverbrecher, Folterer und die politisch Verantwortlichen
unbewohnbar zu machen.

Georg Eberwein: Der internationale Charakter, den die
Medizinische Flüchtlingshilfe von Beginn an hatte, führte jedoch
nie dazu, die Lebensbedingungen von Flüchtlingen hierzulande aus
den Augen zu verlieren. Im Gegenteil, es gelang uns stets, die Kontakte
und Erfahrungen zu nutzen, um sie in konkrete Forderungen vor Ort umzusetzen.

So entstand im Januar 2001
eine Vergleichsstudie über Legalisierungsprogramme in anderen Ländern
der Europäischen Union, die MigrantInnen ohne Papiere zu einem festen
Aufenthalt verholfen hatten. Ein entsprechender konkreter Vorschlag für
eine Gesetzesinitiative hier, wurde im Juni 2001 auf einem Legalisierungskongress
der Öffentlichkeit präsentiert. An dem Kongress, den wir zusammen
mit anderen unter dem Motto „Papiere jetzt“ in Bochum veranstalteten,
nahmen auch VertreterInnen unserer Partnerorgnisationen aus Belgien, Frankreich,
Spanien und Italien teil. Wir hofften damals, es könne uns gelingen,
auf diese Weise in die laufende Debatte um ein Zuwanderungsgesetz zu intervenieren.

Zwar diskutierte die Süßmuth-Kommission
den Vorschlag, die PDS übernahm ihn komplett. Auch die FDP sprach
sich für eine Legalisierung aus, und die Bischöfe warteten mit
einem eigenen Vorschlag auf. Doch die Debatte wurde jäh unterbrochen
durch den flüchtlingspolitischen Rollback, der auf die Terroranschläge
in New York am 11. September 2001 folgte.
Von Legalisierung war plötzlich keine Rede mehr. Schlagzeilen wie
„Das Scheitern der multikulturellen Gesellschaft“ oder Schimpfwörter
wie „Multikulti-Orgien“ oder „multikulturelle Kuschelpolitik“,
„intellektuelle Idealisten“, „Schwätzer“
oder „Traumtänzer“ kennzeichneten den neuen Diskurs von
Abschottung und Zurückweisung, Engstirnigkeit und Provinzialität,
Kontrolle und Kriminalisierung, der auch die Gesetzespakete aus dem Hause
Schily bestimmte.

Knut Rauchfuss: In dieser rassistischen Großwetterlage
geriet zunächst jede Form der Flüchtlingsarbeit in die Defensive.

Wo offen wieder über die Legitimität von Folter diskutiert werden
darf, brauchen Gefolterte sich keinen Schutz mehr zu versprechen.
War vormals die Zugehörigkeit zu einer illegalen Organisation noch
gelegentlich als Asylgrund anerkannt worden, so sind heute plötzlich
nicht wenige dieser bereits Anerkannten zu Mitgliedern terroristischer
Vereinigungen umgelogen, erneut von Ausweisung und Auslieferung bedroht.

Georg Eberwein:
Im Jahr 2006 wurden nur noch 215 Asylanträge anerkannt. Das ist gerade
mal ein Prozent der rund 21.000 Neuanträge. Diesem historischen Tiefstand
standen mehr als 13.000 Abschiebungen gegenüber. Unter solchen Verhältnissen
werden Flüchtlinge mehr und mehr in die Illegalität gezwungen.
Doch auch die Entrechtung und Überwachung derer, die sich ganz offiziell
und legal hier im Lande aufhalten, ist im Zuge des so genannten „Krieges
gegen den Terror“ weiter vorangeschritten und mit der großen
Koalition ist der Assimilationsdruck auf alle MigrantInnen ins Unerträgliche
gestiegen.

Knut Rauchfuss: In einer Zeit, in der die Bundesrepublik
zur Drehscheibe für CIA-Folterflüge im Rahmen des so genannten
„Kriegs gegen den Terror“ wird, und nach sechs Jahren heimlicher
deutscher Komplizenschaft bei der Entführung von hier lebenden MigrantInnen
nach Guantanamo und in andere Folterlager, kann man sich nicht zurücklehnen.

Georg Eberwein:
Solange Menschen bei Nacht und Nebel abgeholt und in jene Länder,
denen sie mit Mühe entronnen sind, deportiert werden, während
gewissenlose ÄrztInnen sie mit Drogen ruhigspritzen, und solange
Kinder, die in Deutschland aufgewachsen sind, sich vor der Abschiebung
in ihr so genanntes „Herkunftsland“ ängstigen müssen,
kann kein Rückblick in Zufriedenheit münden.

Knut Rauchfuss:
Weil eine jahrelange Zwangsunterbringung in Flüchtlingslagern ohne
Arbeitserlaubnis, ohne Bewegungsfreiheit und ohne soziale Hilfe mit der
Menschenwürde nicht vereinbar ist und weil Menschen, deren angebliche
„Verbrechen“ in ihrer bloßen Existenz auf deutschem
Boden liegen, systematisch in die Illegalität gedrängt oder
weggesperrt werden, ist Solidarität auch in Zukunft dringend geboten.

Georg Eberwein:
Und nicht zuletzt: solange täglich Dutzende von Leichen an den Stränden
des Mittelmeers und der kanarischen Inseln angeschwemmt werden, ist die
Notwendigkeit, einer Politik der Unmenschlichkeit aktiven Widerstand entgegenzusetzen,
nur noch zwingender geworden.

Knut Rauchfuss: Was bleibt?
Für Organisationen wie die Medizinische Flüchtlingshilfe ist
der Gegenwind in den letzten zehn Jahren schärfer geworden und die
notwendigen Handlungsfelder scheinen sich ins Unendliche zu weiten.
Getreu dem Motto „Aktive Desintegration – jetzt!“, stellen
wir uns weiter gegen den Assimilationsdruck und beharren darauf, die kulturelle
Vielfalt Hunderter Parallelgesellschaften blühen sehen zu wollen.
Wir versuchen, dem menschenrechtswidrigen und verfassungsfeindlichen Treiben
der regierenden Mehrheiten ein wenig Sand im Getriebe zu sein, und freuen
uns mit jedem Menschen, dem wir ein kleines Stück Würde zurückgeben
konnten.

Georg Eberwein:
Also wird es wohl auch zukünftig noch eine Medizinische Flüchtlingshilfe
in Bochum geben müssen. Damit dies nicht allzu lange der Fall ist,
benötigen wir Eure Unterstützung heute mehr denn je.
Wir brauchen neue MitstreiterInnen, die die herrschenden Verhältnissse
nicht hinnehmen und sich einmischen wollen, die überzeugt sind, dass
Flüchtlingsarbeit auch ein stetiger Kampf gegen Krieg und Unterdrückung
ist und in einer radikalen Parteinahme für die Überlebenden
der Gewalt besteht.
Hierfür brauchen wir Euch. Und wem das alles zu nervenaufreibend,
zu weit entfernt oder zu belastend erscheint, der oder die kann unsere
leeren Kassen mit einer Spende auffüllen helfen. Denn noch immer
finanzieren wir Vieles, von dem hier heute die Rede war, aus eigener Tasche.

Manchmal verschwimmt vor dem
Hintergrund der vielen Notwendigkeiten der Blick auf das, was wir doch
erreichen konnten.
Einiges haben wir bewegt, aber es reicht nie aus.
Deshalb lasst mich schließen mit den Worten eines deutschen Flüchtlings
und Schriftstellers, mit den Worten von Berthold Brecht, der uns die Erkenntnis
hinterließ, dass „unsere Niederlagen nämlich nichts beweisen,
als dass wir zu Wenige sind, die gegen die Gemeinheit kämpfen.“

In diesem Sinne: Danke an all
jene, die uns im letzten Jahrzehnt unterstützt haben, verbunden mit
dem Wunsch an ein schönes gemeinsames Fest!