¡Yo apruebo! Ich stimme zu!

Chiles neue Verfassung – Modell für eine bessere Welt?
Die MFH Bochum unterstützt mit Begeisterung die Bemühungen in Chile, eine neue Verfassung zu verabschieden und sich von den letzten Fesseln der Pinochet Diktatur zu befreien und ruft alle noch in Deutschland lebenden chilenischen Staatsbürger*innen auf, beim bevorstehenden Volksentscheid für diese Verfassung zu stimmen.

Am 04. September 2022 wird über den ersten sozial-ökologisch-feministischen Verfassungsentwurf der Welt entschieden, den ein Gremium von 77 gewählten Personen ausgearbeitet hat – mit Unterstützung von zahlreichen Stadtteilkomitees und Arbeitsgruppen. Dieser Prozess ist ein Resultat der Massenproteste, die 2019 begonnen haben. Millionen gingen seither auf die Straße und fordern einen besseren Zugang zu Bildung und Gesundheit sowie eine Abkehr vom neoliberalen Wirtschaftsmodell, das in der noch geltenden Verfassung aus Zeiten der Diktatur von Augusto Pinochet verankert ist. Pinochet hatte 1973 mit einem Militärputsch die Macht an sich gerissen und ging bis 1990 brutal gegen jede Form von Opposition vor. Tausende Menschen wurden in Gefängnissen gefoltert, ermordet, wurden Opfer der Verfolgungspraxis des Verschwindenlassens oder mussten damals ins Exil flüchten.
Auch nach der Rückkehr dieser Flüchtlinge hielt die MFH weiter Kontakt. Denn auch die zivilen Regierungen nach 1990 waren alles andere als demokratisch. Die rechtliche Aufarbeitung der Diktaturverbrechen blieb zunächst ganz aus und kam schließlich nur schleppend voran.

Die MFH Bochum hat seit ihrer Gründung stets Menschenrechtsaktivist*innen in Chile unterstützt in ihrem Kampf für Demokratie, Gerechtigkeit und Menschenrechte. Mit der Verhaftung von Augusto Pinochet 1998 in Großbritannien entstanden weltweit Organisationen und Initiativen, die sich für ein Ende der Straflosigkeit schwerer Menschenrechtsverletzungen einsetzten. Auch die MFH hat seit dem Jahr 2002 den Schwerpunkt „Gerechtigkeit heilt“, um weltweit Überlebende zu unterstützen bei ihrem Recht auf Wahrheit, Gerechtigkeit, integrale Entschädigungen und Maßnahmen, damit solche Verbrechen nie wieder geschehen. Der Fall Pinochet, der bei seiner Rückkehr nach Chile ein freier Mann blieb, führte letztendlich auch zur Etablierung der universellen Rechtsprechung, um Verbrechen gegen die Menschheit weltweit vor Gericht bringen zu können. Mehr dazu in unserem Buch „Kein Vergeben, kein Vergessen – Der internationale Kampf gegen Straflosigkeit“ von Knut Rauchfuss und Bianca Schmolze.
Derzeit versuchen die immer noch vorhandenen Anhänger*innen der Diktatur in Chile, die neue Verfassung mit einer groß angelegten Kampagne zu verhindern und zu diffamieren. Daher zählt am 4. September jede Stimme! Gleichzeitig ist der neue Verfassungsentwurf das meistverkaufte Sachbuch in Chile. In langen Schlangen stehen Menschen auf dem Plaza de la Moneda und warten darauf, ihr Exemplar zu erhalten.
Wir als MFH stehen solidarisch an der Seite all jener in Chile, die sich für Demokratie und Menschenrechte und für die neue Verfassung engagieren! Die neue Verfassung würde den Kampf um demokratische Grund- und Freiheitsrechte erheblich voranbringen.
Der am 4. September zur Abstimmung stehende Verfassungsentwurf steht für ein demokratisches, soziales, diverses, rechtsstaatliches, menschenrechtsorientiertes, plurinationales, interkulturelles, ökologisches, feministisches Chile.

Um die Verfassung auch hier bekannter zu machen, präsentieren wir hier zentrale Abschnitte, die sich mit den Themen Menschenrechte und Kampf gegen Straflosigkeit befassen:

  • Kapitel 1 Prinzipien und allgemeine Bestimmungen
    • Kapitel 1 Artikel 1 Absatz 3
      Der Schutz und die Gewährleistung der individuellen und kollektiven Menschenrechte sind die Grundlage des Staates und leiten sein gesamtes Handeln. Es ist die Aufgabe des Staates, die notwendigen Bedingungen zu schaffen, die Güter und Dienstleistungen bereitzustellen und den gleichen Genuss der Rechte und die Integration der Menschen in das politische, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Leben kulturellen Leben für ihre volle Entfaltung sicherzustellen.
    • Kapitel 1 Artikel 2 Absatz 1
      1. Die Souveränität liegt bei der chilenischen Bevölkerung, die sich aus verschiedenen Nationen zusammensetzt. Sie wird demokratisch, direkt und repräsentativ ausgeübt, wobei als Grenze die Menschenrechte als von der Menschenwürde abgeleitet anerkannt werden.
    • Kapitel 1 Artikel 14 Absatz 2:
      […] Sie setzt sich ein für die Förderung und Achtung der Demokratie, die Anerkennung und Schutz der Menschenrechte, Inklusion, Gleichstellung der Geschlechter, soziale Gerechtigkeit, Achtung der Natur, Frieden, Koexistenz und friedliche Konfliktlösung sowie die Anerkennung, Achtung und Förderung der Rechte indigener und in Stämmen lebender Völker und Nationen im Einklang mit den internationalen Menschenrechtsnormen
    • Kapitel 1 Artikel 15 Absatz 1:
      Die Rechte und Pflichten der in Chile ratifizierten und in Kraft befindlichen internationalen Menschenrechtsabkommen, die allgemeinen Grundsätze der internationalen Menschenrechtsnormen und des Völkergewohnheitsrechts sind integraler Bestandteil dieser Verfassung und genießen Verfassungsrang.
  • Kapitel 2: Grundrechte
    • Artikel 18
      1. Natürliche Personen sind Träger von Grundrechten. Die Rechte können individuell oder kollektiv eingefordert werden.
      2. Indigene Völker und Nationen sind Träger von kollektiven Grundrechten.
      3. Die Natur ist Trägerin der in dieser Verfassung anerkannten und auf sie anwendbaren Rechte
    • Artikel 21
      1. Jeder Mensch hat das Recht auf Leben und persönliche Unversehrtheit. Dies umfasst körperliche, psychosoziale, sexuelle und emotionale Integrität.
      2. Niemand darf zum Tode verurteilt oder hingerichtet werden, gefoltert werden oder grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden.
    • Artikel 22
      Niemand darf dem gewaltsamen Verschwindenlassen ausgesetzt werden. Jedes Opfer hat das Recht darauf gesucht zu werden, und der Staat stellt alle dafür erforderlichen Mittel zur Verfügung.
    • Artikel 23
      Keine in Chile lebende Person, die die in dieser Verfassung und den Gesetzen festgelegten Voraussetzungen erfüllt, darf vertrieben, verbannt, verbannt oder zwangsumgesiedelt werden.
    • Artikel 24
      1. Die Opfer und die Gemeinschaft haben das Recht auf Aufklärung und Kenntnis der Wahrheit über schwere Menschenrechtsverletzungen, insbesondere wenn es sich um Verbrechen gegen die Menschheit, Kriegsverbrechen, Völkermord oder Gebietsenteignungen darstellen.
      2. Gewaltsames Verschwindenlassen, Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung, Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschheit, Völkermord und das Verbrechen der Aggression sind unverjährbar und können nicht begnadigt werden.
      3. Der Staat hat die Pflicht, zu verhindern, zu untersuchen, zu bestrafen und Straflosigkeit zu verhindern. Solche Verbrechen müssen von Amts wegen, mit der gebotenen Sorgfalt, Ernsthaftigkeit, Schnelligkeit, Unabhängigkeit und Unparteilichkeit untersucht werden. Die Untersuchung dieser Tatsachen darf in keiner Weise behindert werden.
      4. Die Opfer von Menschenrechtsverletzungen haben Anspruch auf volle Wiedergutmachung.
      5. Der Staat garantiert das Recht auf Erinnerung und seine Beziehung zu den Garantien der Nicht-Wiederholung und das Recht auf Wahrheit, Gerechtigkeit und umfassende Wiedergutmachung. Es ist die Pflicht des Staates, die Erinnerung zu bewahren und den Zugang zu Archiven und Dokumenten in ihren verschiedenen Medien und Inhalten zu gewährleisten. Stätten der Erinnerung und Gedenkstätten sind stehen unter besonderem Schutz, und ihre Erhaltung und Nachhaltigkeit wird sichergestellt
    • Artikel 25
      3. Der Staat sorgt für die Gleichstellung von Frauen, Mädchen, sexueller und geschlechtlicher Vielfalt und Andersartigkeit, sowohl im öffentlichen als auch im privaten Bereich.
      4. Jede Form der Diskriminierung ist verboten, insbesondere wenn sie auf einem oder mehreren Gründen beruht, wie z. B. Staatsangehörigkeit oder Staatenlosigkeit, Alter, Geschlecht, sexuelle Merkmale, sexuelle oder affektive Orientierung, Geschlechtsidentität und -ausdruck, körperliche Vielfalt, Religion oder Weltanschauung, Rasse, Zugehörigkeit zu einem indigenen Volk oder Stammesvolk und einer Nation, politische oder sonstige politischen oder sonstigen Überzeugungen, sozialer Klasse, ländlicher Herkunft, Migrations- oder Flüchtlingsstatus, Behinderung, geistiger oder Behinderung, geistiger oder körperlicher Gesundheitszustand, Familienstand, Zugehörigkeit oder sozialer Status sowie jede andere die bezwecken oder bewirken, dass die Menschenwürde, der Genuss und die Ausübung von Rechten zunichte gemacht oder beeinträchtigt werden und die Ausübung von Rechten.
    • Artikel 26
      1. Kinder und Jugendliche haben Anspruch auf die Rechte, die in dieser Verfassung und in den von Chile ratifizierten und in Kraft befindlichen internationalen Menschenrechtsverträgen festgelegt sind.
    • Artikel 27
      1. Alle Frauen, Mädchen, Jugendlichen und Menschen mit sexuellen und geschlechtlichen Unterschieden und Andersdenkenden haben das Recht auf ein Leben frei von geschlechtsspezifischer Gewalt in all ihren Erscheinungsformen, sowohl im öffentlichen als auch im privaten Bereich, unabhängig davon, ob sie von Privatpersonen, Institutionen oder von Vertretern des Staates ausgeht.
      2. Der Staat trifft die erforderlichen Maßnahmen, um alle Arten geschlechtsspezifischer Gewalt und die soziokulturellen Muster, die sie ermöglichen, zu beseitigen, indem er mit der gebotenen Sorgfalt handelt, um sie zu verhüten, zu untersuchen und zu bestrafen sowie den Opfern Betreuung, Schutz und umfassende Wiedergutmachung für die Opfer, insbesondere in Anbetracht der Vulnerabilität, in der sie sich befinden können
    • Artikel 28.
      1. Menschen mit Behinderungen haben Anspruch auf die Rechte, die in dieser Verfassung und in den internationalen Menschenrechtsverträgen, die in Chile ratifiziert wurden und in Kraft sind
    • Artikel 30
      4. Niemand, dem die Freiheit entzogen ist, darf der Folter oder einer anderen grausamen, unmenschlichen oder erniedrigender Behandlung oder Zwangsarbeit unterworfen werden. Ebenso dürfen sie der Isolation oder Einzelhaft als Disziplinarmaßnahme unterworfen werden.
    • Artikel 34
      Indigene Völker und Nationen und ihre Mitglieder haben aufgrund ihrer Selbstbestimmung das Recht auf die volle Ausübung ihrer kollektiven und individuellen Rechte. Insbesondere haben sie das Recht auf Autonomie, auf Selbstverwaltung, auf ihre eigene Kultur, auf ihre Identität und Weltanschauung, auf ihr Erbe, auf ihre Sprache, auf die Anerkennung und den Schutz ihrer Ländereien, Territorien und Ressourcen in ihrer materiellen und immateriellen Dimension und auf die besondere Verbindung, die sie mit ihnen unterhalten, auf Zusammenarbeit und Integration, auf die Anerkennung ihrer eigenen oder traditionellen Institutionen, Rechtsprechungen und Autoritäten und auf die uneingeschränkte Teilnahme am politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Leben des Staates, wenn sie dies wünschen.
    • Artikel 40
      Jeder Mensch hat das Recht auf eine umfassende Sexualerziehung, die den vollen und freien Genuss der Sexualität, die sexuelle Verantwortung, die Autonomie, die Selbstfürsorge und die Zustimmung, die Anerkennung der verschiedenen Identitäten und Ausdrucksformen von Geschlecht und Sexualität fördert, Geschlechterstereotypen beseitigt und geschlechtsbezogene und sexuelle Gewalt verhindert.
    • Artikel 45
      1. Jeder Mensch hat das Recht auf soziale Sicherheit, die auf den Grundsätzen der Universalität, Solidarität, Integrität, Einheit, Gleichheit, Hinlänglichkeit, Teilhabe, Nachhaltigkeit und Chancen beruht.
    • Artikel 61
      1. Jeder Mensch hat sexuelle und reproduktive Rechte. Dazu gehört unter anderem das Recht, freie, autonome und informierte Entscheidungen über den eigenen Körper, die Ausübung der Sexualität, die Fortpflanzung, das Vergnügen und die Verhütung zu treffen.
    • Artikel 63
      Sklaverei, Zwangsarbeit, Leibeigenschaft und Menschenhandel in jeder Form sind verboten. Der Staat verfolgt eine Politik der Vorbeugung, Sanktionierung und Ausmerzung solcher Praktiken. Ebenso garantiert er den Schutz, die vollständige Wiederherstellung der Rechte, die Wiedergutmachung und die soziale Wiedereingliederung der Opfer.
    • Artikel 64
      1. Jeder Mensch hat das Recht auf die freie Entfaltung und volle Anerkennung seiner Identität in all ihren Dimensionen und Erscheinungsformen, einschließlich der sexuellen Merkmale, der geschlechtlichen Identität und des geschlechtlichen Ausdrucks, des Namens und der sexuell-affektiven Orientierung
    • Artikel 102
      1. Der Staat erkennt das Recht der indigenen Völker und Nationen auf ihr Land, ihre Territorien und ihre Ressourcen an und garantiert es.
    • Artikel 103
      1. Die Natur hat ein Recht darauf, dass ihre Existenz, ihre Regeneration, die Erhaltung und Wiederherstellung ihrer Funktionen und ihres dynamischen Gleichgewichts, einschließlich der natürlichen Kreisläufe, der Ökosysteme und der biologischen Vielfalt, respektiert und geschützt werden
(Übersetzung durch Bianca Schmolze, Menschenrechtsreferentin der MFH)
(Bild von Federica Matta)