Residenzpflicht und Wohnsitzauflagen: Medizinische Flüchtlingshilfe Bochum fordert Innenminister auf, deutsche Gerichtsurteile und die GFK umzusetzen

 14.4.2008

Pressemitteilung der Medizinischen Flüchtlingshilfe Bochum e.V. (Langfassung)

Residenzpflicht und Wohnsitzauflagen:
Rechtsbeugende Maßnahmen gegen die Integration von MigrantInnen
und Flüchtlingen in Deutschland

Die Medizinische Flüchtlingshilfe Bochum e.V. fordert die
Innenminister des Bundes und der Länder auf, deutsche Gerichtsurteile
und die Genfer Flüchtlingskonvention umzusetzen

Vom 16. bis zum 18.04.2008 treffen sich die Innenminister des Bundes
und der Länder auf ihrer halbjährig stattfindenden Sitzung in
Bad Saarow in Brandenburg. Themen, die bisher durch die Innenministerkonferenzen
(IMK) ignoriert wurden, sind die Residenzpflicht und die Wohnsitzfreiheit
der Flüchtlinge.
Die Residenzpflicht ist eine gesetzliche Regelung, die Flüchtlinge
massiv in ihrer Bewegungsfreiheit einschränkt. Flüchtlinge,
die sich im Asylverfahren befinden, dürfen nach § 56 des Asylverfahrensgesetzes
den Landkreis, in dem sie leben müssen, nicht verlassen. Flüchtlinge
mit Duldung sind nach § 61 des Aufenthaltsgesetzes in ihrer Bewegungsfreiheit
auf das Bundesland beschränkt, in dem sie leben.

Neben „Flüchtlingen“ im Sinne der UNHCR-Definition sind
von diesen Wohnsitzauflagen alle Ausländer mit Bleiberecht aus humanitären
Gründen betroffen, z.B. wenn eine dauerhafte Rückkehr in ihr
Heimatland unmöglich ist.

Durch die Wohnsitzauflagen werden die Flüchtlinge sozial und wirtschaftlich
massiv benachteiligt, Chancengleichheit ist nicht gegeben, eine Verbesserung
der Integration in der Gesellschaft wird erschwert:
– Flüchtlinge, die dauerhaft in strukturschwachen Regionen leben
müssen, haben bei der Vermittlung von Arbeit und Wohnung noch weniger
Chancen als ohnehin schon; dadurch wird die soziale Isolation verstärkt.
– Besonders in Landkreisen und Kleinstädten führt diese Situation
zu massiven psychosozialen Problemen bei allen Familienmitgliedern; dort
gibt es oft nur wenige Gruppierungen, die die Flüchtlinge unterstützen.
– Kranke und Behinderte werden vielfach von einer möglichen Unterstützung
durch Angehörige abgeschnitten.
– Die Soziallasten werden durch diese Politik künstlich in die Höhe
getrieben.
– Auch beim gesetzlichen Bleiberecht wird die Arbeitssuche und damit eine
Chance auf Integration verhindert.
Residenzpflicht und Wohnsitzauflagen werden in vielen Bundesländern
auch bei Flüchtlingen angewendet, die unter das IMK-Bleiberecht fallen;
das Resultat ist, dass mit Hilfe dieser unsinnigen Verfügungen auch
beim gesetzlichen Bleiberecht die Arbeitssuche und damit eine Chance auf
Integration nachhaltig verhindert wird.

In den vergangenen Jahren wurden in zahlreichen Gerichtsbeschlüssen,
sowohl auf nationalen als auch auf europäischen Rechtsgrundlagen,
die Wohnsitzbeschränkungen als rechtswidrig beurteilt.
Selbst der UNHCR Deutschland positionierte sich im Juli 2007 in einer
ausführlichen 15-seitigen Stellungnahme gegen die Politik der Bundesregierung
und wies darauf hin, dass anerkannte Flüchtlinge und Personen, die
aus menschenrechtlichen Gründen vor einer Abschiebung geschützt
werden (subsidiär geschützte Personen), keine freie Wahl des
Wohnsitzes ermöglicht wird, wenn sie öffentliche Sozialleistungen
beziehen. Diese Maßnahme sei „unvereinbar mit dem Völker-
und Europarecht“. Es wird betont, dass die Wohnsitzauflagen für
die Betroffenen gegen die Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) und
andere Menschenrechtsverträge (Europäische Menschenrechtskonvention
– EMRK) und gegen EU-Recht verstoßen. Die Beschränkung der
Wohnsitzfreiheit sei für die Betroffenen eine schwerwiegende Maßnahme,
die im Einzelfall Menschen lebenslang treffen könne und nicht verhältnismäßig
sei.

Aktuell hat am 15.01.2008 das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig entschieden,
dass wohnsitzbeschränkende Auflagen für anerkannte Flüchtlinge
rechtswidrig sind, wenn die Ausländerbehörden damit das Ziel
verfolgen, die finanzielle Belastung durch Sozialleistungen anteilig auf
die Bundesländer zu verteilen. Der 1. Senat des Bundesverwaltungsgerichts
hat die Auflagen ebenfalls als rechtswidrig beurteilt. Die Genfer Flüchtlingskonvention
garantiert anerkannten Flüchtlingen grundsätzlich Freizügigkeit.
(BVerwG 1 C 17.07)

Unsere alltäglichen Erfahrungen in der Sozialarbeit zeigen, dass
sich trotz aller oben genannten Beurteilungen die Politik in Deutschland
über viele, zum Teil verbindliche rechtliche Grundlagen in der Flüchtlingspolitik
hinwegsetzt, offenbar, weil Flüchtlinge in Deutschland so gut wie
keine Lobby haben. Ihre Rechte werden ihnen zum großen Teil bewusst
und systematisch vorenthalten; die Öffentlichkeit wird über
diese Praxis nur unzureichend informiert.
Folgendes Beispiel macht diese Alltagsrealität von vielen Flüchtlingen
in Deutschland deutlich.

Herr N., ein Asylberechtigter, der seit zwei Jahren mit seiner Familie
durch die Medizinische Flüchtlingshilfe Bochum e.V. (MFH) betreut
wird, wohnt seit acht Jahren in einer kleinen Stadt in NRW. Nach jahrelangen
Bemühungen wurde sein Antrag auf Asyl im April 2007 anerkannt. Da
er in dieser kleinen Stadt jedoch weniger Chancen auf eine Arbeit hatte,
wollte er mit Hilfe des Ausländeramtes in eine größere
Stadt ziehen, um sich dort eine Arbeit zu suchen und somit nicht mehr
auf staatliche Hilfe angewiesen zu sein.
Mit diesem Ziel ging Herr N. zur Ausländerbehörde seines Kreises
und wollte mit seinem Sachbearbeiter sein Anliegen besprechen. Der Sachbearbeiter
war dagegen und lehnte seinen Antrag barsch ab. Herr N. erinnerte ihn
daran, dass er seine Rechte kenne, und bestand darauf, keine staatliche
Hilfe in Anspruch nehmen zu wollen; er legte dem Sachbearbeiter die Kopie
eines Urteils des Bundesverwaltungsgerichts in Leipzig vom 15.01.08 (BVerwG
1 C 17.07) vor, dass Asylberechtigte das Recht auf Freizügigkeit
bei der Wahl ihres Wohnortes haben. Der Sachbearbeiter wies trotz dieses
Urteils den Antrag von Herrn N. mit der Begründung zurück, dass
das Urteil für Leipzig und damit nicht relevant für NRW (!)
sei.
Herr N. musste dem Angestellten der Ausländerbehörde erklären,
dass die Urteile von Bundesgerichten für ganz Deutschland gelten
würden, und fügte hinzu, dass der Sachbearbeiter dies ja wohl
besser wissen müsste als ein Asylberechtigter. Der zuständige
Sachbearbeiter war offensichtlich verärgert über das Selbstbewusstsein
und die Kenntnis der Gesetze von Herrn N.; er nahm dessen Pass und versah
diesen mit einem Stempel, der Herr N. verbot, seine Stadt ohne Erlaubnis
der Ausländerbehörde zu verlassen.
Herr N. erhob über einen Anwalt Einspruch gegen diese Maßnahme.
Der Anwalt verfasste eine Klage gegen die Behörde, in der er viele
Gerichtsurteile, unter anderem auch den Beschluss des Leipziger Bundesverwaltungsgerichtes
zitierte (22.02.2008 an VG Münster). Der Anwalt forderte gleichzeitig
die Übernahme der Gerichtskosten bei einem zu erwartenden Prozess.
Als die Ausländerbehörde von den rechtlichen Absichten des Anwalts
erfuhr, kontaktierte sie Herrn N. und lud ihn nochmals zur Behörde
vor: Dort wurde der Stempel ungültig gemacht und seinem Antrag auf
einen Wohnortwechsel stattgegeben.

Hier geschah es nicht zum ersten Mal, dass ein Sachbearbeiter der Ausländerbehörde
grundlos und willkürlich versucht, Steine in den Weg des Asylberechtigten
zu legen, um ihm damit eine Chance auf Entwicklung und Erfolg zu verweigern.
Es geschah nicht zum ersten Mal, dass ein Sachbearbeiter der Ausländerbehörde
sein Amt missbraucht und Unwissenheit des Flüchtlings einkalkuliert,
um ihn hinters Licht zu führen.
Eigentlich müsste die Ausländerbehörde die Deutschkenntnisse
und die damit verbundenen Gesetzeskenntnisse eines Flüchtlings als
ein positives Zeichen für Integration bewerten; leider werden jedoch
in vielen Fällen diese Kenntnisse von einigen Beamten der Ausländerbehörde
als Untergrabung ihrer Autorität wahrgenommen, so dass dann diese
Beamten durch barsches, zum Teil beleidigendes Verhalten und durch repressive
Maßnahmen versuchen, ihre Autorität wieder herzustellen.

Residenzpflicht und Wohnsitzauflagen für dauerhaft bleibeberechtigte
MigrantInnen und Flüchtlinge verhindern nachhaltig ihre Integration
in Deutschland und treiben die Kosten der Sozialausgaben künstlich
in die Höhe. Daher fordert die Medizinische Flüchtlingshilfe
Bochum e.V. die Innenminister des Bundes und der Länder auf,
– dass sowohl die deutschen Gerichtsurteile als auch andere europäische
Rechtsgrundlagen bezüglich der Residenzpflicht und Wohnsitzauflagen
sowie die GFK beachtet und angewendet werden.
– Wir fordern die IMK auf, in ihren zuständigen Behörden bei
der Bearbeitung von Wohnsitzwechsel-Anträgen einen menschenwürdigen
und pflichtbewussten Umgang mit den betroffenen Flüchtlingen einzuhalten.

– Ebenso fordern wir das IM des Landes Nordrhein-Westfalen auf, die bundeseinheitliche
Verfahrensweise bei wohnsitzbeschränkenden Auflagen, erstellt am
29. Juli 2005 (AZ.: 16-39.06.04-2), mit sofortiger Wirkung auszusetzen.

Für weitere Informationen wenden Sie sich bitte an den Flüchtlingssozialarbeiter
der Medizinischen Flüchtlingshilfe Bochum e.V., Herrn Hanif Hidarnejad:
Tel.: 0234-32 59 272
Email: sozialdienst@mfh-bochum.de