Rede zum Fachgespräch Landtag NRW, 15.4.02

 15.04.2002

[Medizinische Flüchtlingshilfe ist Menschenrechtsarbeit]

Krankheit kennt keinen Aufenthaltsstatus
Zur gesundheitlichen Situation von Flüchtlingen

Rede zum Fachgespräch
Landtag NRW, 15. April 2002
(Knut Rauchfuss, Medizinische Flüchtlingshilfe Bochum)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Freundinnen, liebe Freunde,

zunächst herzlichen Dank
für die Einladung zu diesem Fachgespräch zur gesundheitlichen
Situation von Flüchtlingen.

Ich will versuchen, in der
Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit, meinen Teil dazu beizutragen,
aus der Perspektive der praktischen medizinischen Arbeit mit Flüchtlingen,
die Besonderheiten der gesundheitlichen Situation dieser Zielgruppe herauszustellen.

Doch zunächst ein paar
Worte zu der Organisation, für die ich heute hier spreche:
Die Medizinische Flüchtlingshilfe ist eine sozialmedizinische Menschenrechtsorganisation,
die seit 1997 im Raum Bochum und Umgebung jene Defizite zu decken versucht,
die das Angebot öffentlicher und privater Gesundheitsträger
im Bereich Versorgung von Flüchtlingen hinterlässt. Dies ist
eigentlich nicht unsere Aufgabe, sondern eine gesellschaftliche Verantwortung,
der aber die Einrichtungen des Gesundheitswesens nicht gerecht werden,
oder nicht gerecht werden können, nicht zuletzt, weil sie durch politisch-rechtliche
Rahmenbedingungen daran gehindert werden.
Die Medizinische Flüchtlingshilfe Bochum stellt medizinische und
– mit Einschränkungen – auch psychosoziale Versorgung für Flüchtlinge
bereit. Kostenlos und ohne Ansehen von Person und Aufenthaltsstatus. Sie
umfasst ein Netzwerk von mehr als 50 Praxen im Bereich des östlichen
Ruhrgebietes. Anfragen werden jedoch aus ganz Nordrhein-Westfalen an uns
gerichtet, gelegentlich auch aus anderen Orten des Bundesgebietes. Allein
dies zeigt bereits, dass jene Defizite, die wir zu decken versuchen, ein
generelles und vor allem strukturelles Problem der gesundheitlichen Versorgung
darstellen, das nicht regional begrenzt ist.

Als Folge wirtschaftlicher,
ökologischer und politischer Krisen in aller Welt, sind Menschen
in zunehmendem Maße gezwungen, ihre Heimat zu verlassen. Mehr als
21 Millionen Menschen gelten weltweit als Flüchtlinge; rechnet man
Binnenflüchtlinge mit hinzu, so belaufen sich die Schätzungen
gar auf 50 Millionen. Fast eine Million von ihnen lebt in Deutschland.

Und Flucht macht krank, beginnend
bei den jeweiligen Fluchtursachen, die – ob in Form von Krieg, Unterdrückung
oder Armut – die Lebensbedingungen von Menschen und damit ihre Gesundheit
beeinträchtigen.
Systematische Erhebungen hierzu existieren nicht. Nach unserer Erfahrung
finden sich bei Flüchtlingen diverse körperliche und psychische
Beeinträchtigungen, die von den PatientInnen in unmittelbaren Zusammenhang
mit erfahrener Gewalt durch Krieg, Folter und Militär gestellt werden.
Hierzu gehören Residualzustände nach Schuss- und Explosionsverletzungen,
die weitreichende Beeinträchtigungen oder Behinderungen nach sich
ziehen, sowie schmerzhafte, bewegungseinschränkende und sensibilitätsbeeinträchtigende
Folgeschäden bei Überlebenden von Folter.
Darüber hinaus finden sich armutsbedingte Erkrankungen, insbesondere
Infektionen der Atemwege und des Magen-Darm-Traktes oder Erscheinungen
von Fehl- und Mangelernährung.
Fast die Hälfte der PatientInnen leidet an psychischen Störungen,
ein großer Teil davon an Symptomen, die sich als posttraumatische
Stressreaktionen im Sinne der Diagnose PTSD zusammenfassen lassen; darüber
hinaus sind jedoch alle psychiatrischen Krankheitsbilder als Reaktionen
auf das Erlittene vertreten.
Dies ist nicht nur unsere eigene Erfahrung, sondern wird mittlerweile
auch von der Weltgesundheitsorganisation im „World Health Report
2001“ offiziell bestätigt.

Die geschilderten Beschwerden
sind einerseits als Folge der fluchtbedingenden Faktoren im Herkunftsland
zu werten. Neben diesen fördern aber auch fluchtbedingte Faktoren
die Anfälligkeit gegenüber Krankheiten.
Flucht macht krank, da wo Menschen gezwungen werden, sich auf den entbehrungsreichen
Weg zu machen, ihre angestammten Lebensumstände zu verlassen, nicht
zuletzt, um beim Versuch der Überwindung von Einreiseschranken erneut
Leben und Gesundheit zu riskieren. Durch eine veränderte Rechtslage
in der Asylpraxis wächst die Zahl klandestiner Immigrationen. Mit
Schwinden der Chance, europäisches Territorium auf legalem Weg zu
erreichen, sind Flüchtlinge zunehmend gezwungen, sich in die Hände
von Schleusergruppen zu begeben, deren vorrangiges Ziel darin besteht,
Kapital aus der Misere der Flüchtlinge zu schlagen. Berichte von
menschenunwürdigen Transportformen wechseln mit Nachrichten über
Gewaltverbrechen an den Flüchtlingen selbst. So kommen nicht nur
zahlreiche Flüchtlinge bei dem Versuch, Europa auf dem Seeweg zu
erreichen, ums Leben. Auch bei der Überquerung innereuropäischer
Grenzflüsse nehmen jährlich zahlreiche Menschen Schaden. Die
Überlebenden berichten oftmals von Überfällen während
des Transportes, oder weisen Folgewirkungen von Unterkühlung, Unterernährung
u.v.m. auf.

Und Flucht macht Menschen krank,
selbst dann noch, wenn sie scheinbar sicheren Boden in der Bundesrepublik
Deutschland erreicht haben.
Menschenunwürdige Unterbringungsbedingungen, nahezu fehlende soziale
Unterstützung und ein auf Notfallversorgung beschränkter Behandlungsanspruch,
unsichere Aufenthaltsbedingungen, gekoppelt an die permanente Bedrohung,
abgeschoben zu werden, und Ausgrenzungspraktiken durch staatliche Behörden
– wie durch das neue, abwehrende und abweisende gesellschaftliche Umfeld
– verursachen, beschleunigen oder begünstigen die Entstehung von
Krankheit und vermindern Heilungschancen.

Das Asylbewerber-Leistungs-Gesetz
schränkt die Sozialleistungen von Flüchtlingen grundsätzlich
ein. Neben den indirekt gesundheitsbeeinträchtigenden sozialen Einschränkungen,
wie z.B. der Absenkung der Sozialhilfe um rund 25%, deren Auszahlung in
Sachleistungen, sowie der Unterbringung in Gemeinschaftsunterkünften,
ist auch direkt die kurativ-medizinische Versorgung auf ein unerträgliches
Maß reduziert. Darüber hinaus dokumentieren zahlreiche Fälle
die Einschränkung des Behandlungsanspruchs durch Sozialämter
und AmtsärztInnen in Form einer den gesetzlichen Rahmen sprengenden,
übermäßig restriktiven Auslegung des AsylbLG. In dieser
Situation scheuen zahlreiche AsylbewerberInnen die bürokratischen
Hürden und suchen den Ausweg im Bereich der Laienhilfe im Angehörigen-
oder Bekanntenkreis anstelle einer adäquaten medizinischen oder psychotherapeutischen
Versorgung.

Wie bereits erwähnt, hat
die Verschärfung des Asylrechtes die Zahl von Einwanderungen ohne
gleichzeitige, gesetzliche Regelung des Aufenthaltsstatus, anwachsen lassen.
Seitdem es nahezu unmöglich gemacht wurde, auf legalem Weg nach Deutschland
zu fliehen, einzureisen, einzuwandern, ist die Überschreitung der
Staatsgrenzen oftmals nur noch „illegal“ möglich. So werden
Menschen, die hier Zuflucht suchen, in die Illegalität gedrängt
– kriminalisiert. Die ständige Furcht vor Entdeckung, Denunziation
und Abschiebung prägt das Leben in der „Illegalität“.
Für solchermaßen Illegalisierte verlaufen die zu überwindenden
Grenzen durch den Alltag. Illegalisierung bedeutet, keinen Zugang zu all
dem zu haben, wo Papiere verlangt werden könnten. Im Falle einer
Erkrankung oder Schwangerschaft wird der Besuch bei einem Arzt oder einer
Ärztin solange wie möglich vermieden, und ebenfalls die Suche
nach einem Ausweg in den Bereich der Laienhilfe verlagert. Erst wenn ein
weiterer Aufschub von fachkundiger Behandlung unvermeidlich geworden ist,
wird professionelle Hilfe gesucht.
Dabei aber erfolgt die Auswahl der Ärzte und Ärztinnen nicht
immer passend zum Krankheitsbild. So werden vornehmlich Praxen aufgesucht,
von denen erzählt wird, dass man denjenigen trauen kann, egal, welcher
Fachdisziplin sie angehören.
Ist ein solches Vertrauen nicht gegeben, erfolgen oft einmalige Konsultationen
unter falscher Identität, mit fehlender Folgebehandlung aus Angst
vor „Enttarnung“.
Andere PatientInnen verschulden sich bei ArbeitgeberInnen, Familie oder
Bekannten, um eine Krankenhausbehandlung auf Privatrechnung bezahlen und
damit eine Weitergabe ihrer Daten verhindern zu können.

In dieser Situation tragen
für zahlreiche Flüchtlinge ihre Lebensbedingungen hier zur Verschlechterung
der Gesundheitssituation bei. Nach unseren Erfahrungen spielen dabei ursächlich
– neben den genannten sozialen Restriktionen – die Entwertung der eigenen
Lebensanstrengungen und die Wahrnehmung, unwillkommen zu sein, eine wesentliche
Rolle vor allem für psychosoziale Störungen. Einen wesentlichen
Faktor, im Rahmen der Verhinderung psychischer Genesung von den Folgen
erlittener Gewalt, stellt nicht nur der mangelnde Zugang zu fachgerechter
therapeutischer Versorgung für traumatisierte Flüchtlinge dar.
Auch der unsichere Aufenthaltsstatus, die permanente Konfrontation mit
der Gefahr der Abschiebung, wirkt einer psychischen Stabilisierung von
traumatisierten Flüchtlingen systematisch entgegen.

Hinzu kommt fehlendes Wissen
um bestehende Rechte auf Vorsorge und Behandlung, und kommunikative Barrieren,
die ein generelles Problem der gesundheitlichen Versorgung von MigrantInnen
darstellen, und auf die ich daher hier nicht spezifisch eingehen möchte.
Entsprechende Daten, zum Beispiel zur geringeren Inanspruchnahme kinderärztlicher
Vorsorgeuntersuchungen und Schutzimpfungen durch Flüchtlingsfamilien
im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung, finden sich im Gesundheitsbericht
NRW.

Meine Damen und Herren, liebe
Freundinnen, liebe Freunde,
ein Teil der geschilderten Probleme lässt sich beheben, wenn neuankommenden
Flüchtlingen ein Erstuntersuchungs- und -beratungsprogramm angeboten
würde, das die Kenntnisvermittlung über Aufbau und Zugangswege
zum hiesigen Gesundheitsversorgungssystem einschließt.
Darüber hinaus kann aufsuchende Gesundheitshilfe im lebenspraktischen
und sozialmedizinischen Bereich Abhilfe schaffen. Flächendeckende
Versorgung mit muttersprachlichem Fachpersonal, die Förderung von
interkultureller Kompetenz bei MitarbeiterInnen des Gesundheitswesens
und die Finanzierung von DolmetscherInnen können zu Verbesserungen
führen.
Für psychologisch traumatisierte Flüchtlinge muss in ausreichendem
Maße Zugang zu Therapieplätzen mit spezieller Fachqualifikation
geschaffen werden.

Wer aber die Gesundheitssituation
von Flüchtlingen wirklich verbessern will, muss daher zunächst
einmal ihre Menschenrechte garantieren, muss die Bereitstellung menschenwürdiger
sozialer Mindeststandards gewährleisten und muss ermöglichen,
dass sich Menschen, die auf der Suche nach Schutz sind, auch dauerhaft
sicher fühlen und ihr Leben im Exil planen können.
Gesetze, die menschenrechtliche Mindestanforderungen verletzen, sind ebenso
aufzuheben, wie die Denunziationsparagraphen 75 und 76 des Ausländergesetzes.

Denn – meine Damen und Herren
-, Krankheit kennt keinen Aufenthaltsstatus.

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