Offener Brief an die Bochumer Polizeipräsidentin
MFH bezieht Stellung zum Polizeieinsatz im Flüchtlingswohnheim
Pressemitteilung
16.01.2012
Sehr geehrte Damen und Herren,
am Neujahrsmorgen drang das SEK der Polizei auf der Suche nach flüchtigen Verdächtigen gewaltsam in ein Flüchtlingswohnheim in Bochum-Wattenscheid ein. Die dort lebenden Flüchtlingsfamilien, die teilweise in ihrer Heimat durch erlebte Gewalt seitens der Polizei oder des Militär bereits traumatisiert sind, stehen seitdem unter Schock und verstehen bis heute den Sinn dieses Einsatzes nicht.
Daher hat die Medizinische Flüchtlingshilfe die Bochumer Polizeipräsidentin in einem offenen Brief dazu aufgefordert, sich bei den unschuldig in Mitleidenschaft gezogenen BewohnerInnen zu entschuldigen und für alle eine offizielle Informationsveranstaltung durchzuführen.
Denn, so Fjorda Kalleshi, Psychologin der Medizinischen Flüchtlingshilfe Bochum: „ Der unerwartete SEK- Einsatz, gekoppelt mit mangelnder Information für die Flüchtlinge, bedeutet für die Betroffenen einen erneuten Kontrollverlust und könnte zu einer Retraumatisierung führen“.
Wir bitten Sie den unten angehängten offenen Brief zum nächstmöglichen Zeitpunkt zu veröffentlichen. Anbei der Brief auch als PDF.
Vielen Dank im Voraus!
Für Rückfragen stehen wir unter der Telefonnummer 0234-912 88 46
gerne zur Verfügung!
Mit freundlichen Grüßen
Kirsten Ben Haddou
Öffentlichkeitsarbeit
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Offener Brief
Bochum, 13.01.2012
Frau Polizeipräsidentin
Diana Ewert
Uhlandstr.35
44791
Bochum
Stellungnahme der Medizinischen Flüchtlingshilfe Bochum zum Polizeieinsatz am 1.1.2012 im Übergangswohnheim für AsylbewerberInnen in Bochum-Wattenscheid Emilstr.
Sehr geehrte Frau Ewert,
nach dem Einsatz des SEK im o.g. Wohnheim für Flüchtlinge am Neujahrsmorgen, möchte die Medizinische Flüchtlingshilfe Bochum nach eingehender Recherche und Überprüfung des Vorfalls vor Ort ihre Besorgnis um das Wohlergehen der von dem Polizeieinsatz betroffenen Familien und auch ihre Kritik gegenüber den Verantwortlichen zum Ausdruck bringen.
Auch wenn der Einsatz des SEK offenbar weitestgehend nach einem standardgemäßen Verfahren abgelaufen ist, wurde er dennoch von den betroffenen Familien als brutal erlebt. Besonders vor dem Hintergrund der Tatsache, dass es sich bei der Personengruppe der Flüchtlinge häufig um Personen handelt, die aus ihren Heimatländern gerade durch Polizei und Militär gewaltsame Übergriffe erleben mussten, bewertet die MFH Bochum das Vorgehen beim Einsatz als besonders unglücklich, besorgniserregend und in einigen Punkten als kritikwürdig.
Diese Einschätzung hat sich für uns durch die offiziellen Stellungnahmen der stellvertretenden Bürgermeisterin Astrid Platzmann- Scholten und auch des Amtsrichters und Ratsmitglieds Dr. Ralf Feldmann mit entsprechend kritischen Fragen und Äußerungen zur Recht- und Verhältnismäßigkeit des Vorgehens der Polizei erhärtet. Wir schließen uns den geäußerten Kritikpunkten an und fordern eine entsprechende Prüfung der angesprochenen Sachverhalte.
Besonders wichtig ist uns allerdings als Flüchtlings- und Menschenrechtsorganisation der Umgang mit den betroffenen Flüchtlingsfamilien in der Emilstraße. Zwei Mitarbeiterinnen des psychosozialen Teams der Medizinischen Flüchtlingshilfe konnten sich vor Ort durch intensive Gespräche mit den betroffenen Familien davon überzeugen, dass eine tiefe Verstörung und Angstsymptomatik vorhanden ist, die von den BewohnerInnen eindeutig mit dem SEK- Einsatz in Verbindung gebracht wird.
Ganz im Gegensatz zu der von der Polizei (namentlich Andreas Dickel) betonten angeblich gelungenen Verständigungs- und Verständnisarbeit kritisieren wir nach den Gesprächen mit den BewohnerInnen die bis jetzt andauernde mangelhafte Informationspolitik gegenüber den Betroffenen, denn die Mitarbeiterinnen der MFH konnten auf Nachfrage bei den Flüchtlingsfamilien keinerlei Verständnis feststellen. Bis heute verstehen diese Menschen nicht, warum die Polizei am frühen Morgen gewaltsam unter Aufbrechen der Wohnungstüren und mit vorgehaltenen Waffen in ihre Wohnungen eingedrungen ist, auch Frauen und Kinder zu Boden gezwungen wurden und Männer in Fesseln abgeführt wurden. Ganz im Gegenteil stehen diese Menschen unter Schock und werden mit diesem von den Behörden weitestgehend allein gelassen. Alle Familien mit denen wir sprachen, haben Angst und berichten, dass besonders die Kinder öfter als sonst weinen, unter Schlafstörungen leiden und sich verstärkt an Bezugspersonen „klammern“ oder die Familien sind zumindest verstört und verwirrt über den Sinn und Zweck des polizeilichen Einsatzes. Einzelne Personen beklagen auch die Verstärkung von körperlichen bzw. psychosomatischen Beschwerden von bereits bestehenden psychosozialen Erkrankungen nach dem Einsatz.
Vor diesem Hintergrund fordert die Medizinische Flüchtlingshilfe die Polizeipräsidentin der Stadt Bochum Frau Ewers auf:
sich im Namen der Polizei bei allen unschuldig in Mitleidenschaft gezogenen BewohnerInnen offiziell zu entschuldigen
dazu kurzfristig eine Informationsveranstaltung vor Ort durchzuführen und dazu eine ausreichende Zahl von DolmetscherInnen in den benötigten Sprachen der Bewohnerinnen bereitzustellen, die auch Rückfragen an die Polizei ermöglichen dabei eine formelle Entschuldigung mit der offiziellen Versicherung auszusprechen, dass es sich bei dem Einsatz um eine absolute Ausnahmesituation handelte und aus den erfolgten Verhaftungen keine weiteren Ermittlungen oder Unannehmlichkeiten resultieren werden. Diese von uns geforderten Schritte sind zwingend erforderlich und resultieren aus den langjährigen Erfahrungen der MFH mit traumatisierten Flüchtlingen. Es ist nicht auszuschließen, dass der SEK-Einsatz zu einer Retraumatisierung vorher erlebter staatlicher Gewalt im Herkunftsland oder zumindest zu einer Wirkungsverstärkung traumatischer Erlebnisse führen kann, daher muss unbedingt ausgeschlossen werden, dass die Betroffenen sich einer erneuten Verfolgung durch die hiesige Polizei ausgesetzt sehen.
Eine offizielle Entschuldigung durch die Polizei wäre darüber hinaus ein wichtiges Symbol für die Anerkennung von Flüchtlingen, da erlebte Menschenrechtsverletzungen im Heimatland u.a. auch durch staatliche Organe wie die Polizei häufig das Vertrauen in rechtsstaatliche Institutionen gestört haben. Der plötzliche Eingriff kann für traumatisierte Flüchtlinge einen Vertrauensbruch in die schutzbietenden Strukturen des Aufnahmelandes verursachen. Eine Entschuldigung würde daher durch die Demonstration rechtsstaatlicher Verantwortung gegenüber den Betroffenen auch eine Integrationsleistung von Seiten der Polizei darstellen.
Wir fordern Sie auf, die Verantwortung aus Respekt vor traumatisierten Menschen zu übernehmen und umgehend die entsprechenden Schritte einzuleiten.
Zu ihrer Information werden wir diesen offenen Brief am kommenden Montag auch an die Presse schicken.
Für weitere Rückfragen stehen wir unter der Telefonnummer 0234- 912 88 46 sehr gerne zur Verfügung!
Mit freundlichen Grüßen
Kirsten Ben Haddou
Öffentlichkeitsarbeit