COALITION AGAINST IMPUNITY
Dringlicher Aufruf von Menschenrechtsorganisationen aus der Türkei an die internationale Gemeinschaft
Dringlicher Aufruf von Menschenrechtsorganisationen aus der Türkei an die internationale Gemeinschaft
Mit dem Abbruch der Friedensgespräche begann die Regierung der Türkei Mitte August eine Sicherheitspolitik in Gang zu setzen, die rechtswidrig grundlegende Rechte und Freiheiten in denjenigen Städten beschneidet, die vorwiegend von KurdInnen bewohnt sind.
Seit August 2015 wurden langfristig und wiederholt Ausgangssperren über die Provinzen und die dazugehörigen Städte von ??rnak, Mardin, Diyarbak?r, Hakkari und Mu? verhängt. In bestimmten Städten und Ortschaften bestehen sie weiter fort. Während der Ausgangssperren wurde den nationalen wie internationalen Medien, Menschenrechts- wie Berufsorganisationen und auch ParlamentarierInnen, die Rechtsverletzungen feststellen wollten, der Zugang zu diesen Städten und Ortschaften verwehrt. Nach Berichten einer kleinen Zahl von Organisationen der Zivilgesellschaft, die trotz großer Hindernisse in das Gebiet reisen konnten, wurde festgestellt, dass die Zivilbevölkerung zum Ziel sowohl von Scharfschützen wie auch von schweren Waffen geworden ist, die in willkürlicher Art und Weise eingesetzt wurden.
Nach Berichten von Menschenrechtsorganisationen sind 1,3 Million Menschen von den Ausgangssperren betroffen; mehr als 150 Zivilpersonen – unter ihnen Kinder und ältere Menschen, haben ihr Leben verloren[1]. Viele Menschen wurden verletzt, Hunderttausende vertrieben. Es gibt willkürliche Festnahmen und Haft, und Zivilpersonen sind in den Haftzentren und unter freiem Himmel Folter und Misshandlungen unterworfen. Störungen des Telefonnetzes schränken das Recht auf Information und freie Kommunikation ein. Aufgrund einer Amtsverfügung, mit der LehrerInnen aus der Region weg versetzt wurden, wurde der Schulunterricht auf unbestimmte Zeit unterbrochen. Ebenso wurde die Gesundheitsversorgung eingestellt. Keinerlei Sorge um den Schutz von ZivilistInnen ist feststellbar, und den Menschen wird noch nicht einmal die Möglichkeit gewährt, ihre minimalen täglichen Grundbedürfnisse wie das Recht auf Essen und Wasser zu stillen. Nach Ende der Ausgangssperren wurden keine unverzüglichen und sichtbar effektiven Ermittlungen durchgeführt. Strafverfahren und Bestrafung derjenigen Sicherheitskräfte, die Rechte verletzt haben, werden damit nahezu unmöglich gemacht. Die Politik der Straflosigkeit wird fortgeführt und ausgeweitet und damit immer massiver.
Obwohl die Ausgangssperren mit Verweis auf Artikel 11/C des Provinzverwaltungsgesetzes mit der Rechtfertigung erklärt wurden, „Angehörige der terroristischen Organisationen festzunehmen“ und „die körperliche Unversehrtheit der Bevölkerung und ihres Eigentums sicherzustellen“, sind sich die Juristen weitgehend einig darüber, dass das genannte Gesetz den zuständigen Gouverneur nicht berechtigt, ein Verbot zu verhängen, das die Rechte und Freiheiten der ganzen Bevölkerung einer Stadt oder Ortschaft derartig einschränkt. Nach Artikel 13 der Verfassung kann solch eine Einschränkung nur per „Gesetz“ ausgesprochen werden. Die Erklärung einer Ausgangssperre nur durch Erlaß des Gouverneurs ist verfassungswidrig. Die Tatsache, dass die Maßnahmen der Ausgangssperren und die damit verbundenen Sanktionen daher ohne Rechtsgrundlage bestehen, bedeutet auch, dass die Sicherheitseinsätze und die Rechtsverletzungen in dieser Zeit keiner rechtlichen Überprüfung unterliegen.
Im Gegensatz zu Kriegszeiten sind Sicherheitskräfte in bewohnten Gebieten, für die kein Notstand oder Kriegsrecht erklärt wurde, nicht berechtigt, schwere Waffen und Munition zu benutzen. Dies verletzt zudem das Prinzip, zuvor zwingend die Evakuierung der zivilen Bevölkerung sicherzustellen. Während der Planung, Durchführung und Kontrolle von Einsätzen, die angeblich dem Schutz der Zivilbevölkerung vor unrechtmäßiger Gewalt dienen sollen, ist nicht zu akzeptieren, wenn willkürliche und unangemessene Gewalt angewandt wird, die sich nicht in Übereinstimmung mit der Sorgfaltspflicht eines Staates in einer demokratischen Gesellschaft befindet. Die todbringende Gewalt, die gegenwärtig in den obengenannten Provinzen und Bezirken von der Regierung der Türkei angewandt wird, stellt derzeit eine grobe Verletzung des Prinzips der Verhältnismäßigkeit dar zwischen dem beabsichtigten Ziel und der Gewalt, die zu dessen Erreichung in einer demokratischen Gesellschaft benutzt würde.
Das in dieser Auseinandersetzung entstehende Umfeld macht MenschenrechtsverteidigerInnen zu Zielen staatlicher Gewalt und politisch motivierter Ermordung. So wurde der Präsident der Rechtsanwaltskammer Diyarbakir und Menschenrechtsverteidiger Tahir Elçi während der Verlesung einer Presseerklärung ermordet. Er hatte darin dazu aufgerufen, die Sicherheitseinsätze zu beenden und zu Friedensverhandlungen zurückzukehren.
Die Situation ist entsetzlich und unser Aufruf ist dringlich!
Als Organisationen der Zivilgesellschaft fordern wir die internationale Gemeinschaft dazu auf, die
Regierung der Türkei daran zu erinnern, dass:
– die Verhängung von Ausgangssperren ohne rechtliche Grundlage inakzeptabel ist;
– todbringende Gewalt unter keinen Umständen in unverhältnismäßiger und willkürlicher Art und Weise angewandt werden darf;
– bei Sicherheitseinsätzen Verpflichtungen der internationalen Menschenrechtsgesetzgebung, des internationalen Strafrechts wie auch des internationalen humanitären Rechts nicht aufgehoben werden können;
– Menschenrechts- und Berufsorganisationen, VertreterInnen der lokalen Regierung und des Parlaments, die sich für die Feststellung, Beendigung und Strafverfolgung von Rechtsverletzungen einsetzen und dies gegenüber der internationalen Gemeinschaft vollständig transparent machen, müssen unterstützt werden; und
– wir rufen zu einem beiderseitigem Waffenstillstand auf, der Einstellung der Auseinandersetzungen und der Wiederaufnahme von Friedensverhandlungen, die unter Teilnahme von unabhängigen BeobachterInnen in offizieller und transparenter Art und Weise geführt werden sollten.
Mitgliedsorganisationen der Koalition gegen Straflosigkeit:
Anwaltskammer Batman, Anwaltskammer Diyarbakir, Helsinki Citizens‘ Assembly – Türkei,
Human Rights Agenda Association, Menschenrechtsverein IHD, Menschenrechtsstiftung der Türkei TIHV, Anwaltskammer Sirnak, Zentrum für Wahrheit, Gerechtigkeit und Erinnerung
Nachweis: Urgent call from Turkey’s Human Rights Organizations to the international community, 6. Januar 2016, Übersetzung: Connection e.V., Offenbach: rf, cs / Medizinische Flüchtlingshilfe: kr
[1] Aktuelle Zahlen zur Verletzung des Rechts auf Leben aufgrund der Ausgangssperren nach verschiedenen Quellen: Nach Zahl des Dokumentationszentrums der Menschenrechtsstiftung haben mit Stand vom 6. Januar 2016 mindestens 151 ZivilistInnen während des Zeitraums der Ausgangssperren in 17 Städten und 7 Bezirken ihr Leben verloren. Nach Angaben der Dokumentationsstelle des Menschenrechtsvereins haben seit Beginn des bewaffneten Konflikts, dem 24. Juli 2015, bis zum 6. Januar 2016, in den Städten, über die Ausgangssperren verhängt wurden, 134 Zivilpersonen ihr Leben verloren. Im Jahr 2016 verloren während der Ausgangssperren in Sur, Cizre und Silopi 12 Personen ihr Leben. Das Informationszentrum der Demokratischen Partei des Volkes, das ebenfalls täglich über die Verletzung des Rechts auf Leben berichtet, stellte fest, dass bis zum 6. Januar 2016 152 Personen ihr Leben verloren haben.